Musiker

Stefan M. Gergely am Steinway im Jahr 2020
(Foto: Herbert Lehmann).

Inhalt:

  • Ein Leben ohne Musik ist wie ein Glas ohne Wein
  • In Wien spielt jeder mit Talent, aus Lebenslust ein Instrument.
  • Violoncello: Eigenwilliger Entschluss
  • Versuchskaninchen im Musikgymnasium
  • Chemie oder Musik?
  • Konzerthaus ist fürs Profilspiel, das Hauskonzert gibt Laien viel
  • Wie attraktiv ist das Leben eines Musikstars?
  • Faszination Weltmusik
  • Anhang: Zur Frage der „richtigen“ Bogenführung

Ein Leben ohne Musik
ist wie ein Glas ohne Wein.

„Musik: Atmung der Seele?“ So wollte ich den Titel zu diesem Kapitel nennen. Aber dann klang er mir zu pathetisch, und Pathos ist nicht meins. Zumal ich nicht angeben kann, was die Seele ist, wo sie sich befindet (und ob es sie überhaupt gibt).

Die neue Überschrift habe ich gewählt, weil ich gern musiziere und gern Wein trinke. Beide beeinflussen die Stimmung. Wenn ich in schlechter Verfassung bin, dann setze ich mich ans Klavier oder Cello und lasse die Finger spielen. Es läuft meist von allein, Noten würden stören. Oft ertönen Klänge in Moll. Aber fast immer fühle ich mich nachher wohler.

In Wien spielt jeder mit Talent,
aus Lebenslust ein Instrument.

Die Lust am Improvisieren habe ich wahrscheinlich vom Vater, der auf nachstehendem Foto zu sehen ist. Er hatte während der zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts als Barpianist gearbeitet, als Zubrot für sein Studium.

Musik war ihm wichtig, und so lag auf der Hand, dass mein Bruder Thomas und ich Klavier lernten.

Mit acht Jahren ging ich zu Clara Reganzini-Guttmann in privaten Klavierunterricht, der im Hochhaus der Wiener Herrengasse stattfand. Sie war Schülerin des Künstlers Friedrich Gulda und versuchte mir beizubringen, wie man Tasten richtig anschlägt.

Wichtig war ihr vor allem, von den Tasten weg und nicht in sie hinein zu spielen. Darin lag für Reganzini das Geheimnis eines plastisch klingenden Anschlags (zum Beleg dafür, was sie meinte, braucht man nur aufmerksam eine Tonaufnahme ihres Lehrers Gulda zu hören, auf der er etwa Bach oder Mozart spielt).

Immer wieder schrieb Reganzini „Finger gut heben“ in mein Unterrichtsheft:

Mitte der 1960-er Jahre wechselte ich zum Pianisten Hans Petermandl an die damalige Akademie für Musik und Darstellende Kunst, bis der Lehrer nach Graz übersiedelte.

Der Zufall führte mich dann zu Hilde Langer-Rühl. Nach meinen Aufzeichnungen unterrichtete sie mich von 1969 bis 1973 im Fach Atem- und Stimmkunde für Pianisten an der genannten Akademie, danach war ich noch einige Jahre lang privat bei ihr zur Weiterbildung. Ich habe ihr viel zu verdanken, etwa bei der Interpretation der letzten drei Klaviersonaten von Franz Schubert.

Vor allem aber lehrte sie mich zu begreifen und umzusetzen, was Musizieren mit Atmung zu tun hat. Nach Auffassung von Langer-Rühl sollten musikalische Impulse vom Zwerchfell ausgehen, also genau von dort, wo die antiken Griechen den Sitz der Seele verorteten. So erklärt sich übrigens der ursprünglich geplant gewesene Titel dieses Berichts.

Violoncello:
Eigenwilliger Entschluss

Mit zehn Jahren  wollte ich Violoncello lernen. Wie ich auf die Idee kam, weiß ich nicht mehr. Es dürfte spontan gewesen sein. Zumindest kann ich nicht erinnern, dass mir das Instrument irgendwer eingeredet hatte.

Die Mutter vermittelte den Kontakt zu Tobias Kühne, der Professor an der Musikakademie war und beim französischen Cellisten André Navarra studiert hatte. Er befand, dass meine Hände noch zu klein seien („zu kleen“ sagte er in seinem bundesdeutschen Akzent); ich hätte auf einem „halben“ Cello beginnen müssen, argumentierte er, die spätere Umstellung auf ein großes Instrument sei oft mit Schwierigkeiten verbunden und koste Zeit.

Ich ging einstweilen zu Wilhelm Winkler ans Konservatorium der Stadt Wien.

Im Jahr 1963 kehrte ich zu Tobias Kühne zurück, bestand die Aufnahmeprüfung und wurde zum Studium im Konzertfach Violoncello an der Musikakademie zugelassen:

Folgendes Bild zeigt den jungen Cellisten im Jahr 1963 – man erkennt noch die „Wiener“ Bogenhaltung aus der Schule von Wilhelm Winkler (siehe dazu weiter unten):

Aus diesem Jahr datieren übrigens meine ersten und einzigen Versuche zu komponieren. Mein Opus 2 sollte eine Fantasie für Klavier und Orchester werden, aber sie blieb weitgehend unvollendet.

Versuchskaninchen
im Musikgymnasium

Im Herbst 1964 begann ich die Oberstufe am Realgymnasium für Studierende der Musik in der Wasagasse. Sie dauerte ein Jahr länger als normal, weil alle Nebenfächer, die Studierende der Akademie zu absolvieren haben, im Gymnasium unterrichtet wurden; dafür waren fünf Stunden Musik pro Woche nötig, Unterricht an Nachmittagen sollte es auch nicht geben. Daher musste der Lehrplan von vier auf fünf Jahre ausgedehnt werden.

Auf diese Weise sollten junge Musiker neben dem aufwendigen täglichen Üben ihres Instruments auch die Matura absolvieren können (was zuvor die wenigsten Profi-Musiker geschafft hatten).

Die Geigerin Roswitha Randacher beispielsweise, die meine Klasse besuchte und als Wunderkind galt, übte mehr als vier Stunden pro Tag. Denn ohne hartes Training hat man in aller Regel keine Chance auf eine erfolgreiche Laufbahn als Solist. Eine solche Karriere wollte ich ursprünglich zwar auch, aber die Anforderungen waren dann doch deutlich härter als ich es erwartet hatte.

Gleichwohl versuchte ich mich während der Schulzeit an schwierigen Stücken der Musikliteratur, dazu gibt es wenige Tondokumente, die ich damals aufnahm und im Jahr 2022 digitalisierte, es waren Live-Mitschnitte, bei denen mich zumeist der Peruaner Carlos Rivera Aguilar am Klavier begleitete.

Das Tonbandgerät hab ich selber ein- und ausgeschaltet, nachbearbeitet wurden die Aufnahmen in keiner Weise. in nachstehendem Link ist das Allegro aus der Sonate in A-Dur von Luigi Boccherini zu hören.

 

Ausschnitt aus dem ersten Satz des berühmten Cellokonzerts von Antonin Dvorak:

 

Im Jahr 1965 übersiedelte der – in späteren Jahren weltberühmte – Cellist Heinrich Schiff von Linz ins Wiener Musikgymnasium. Er war ein Jahr jünger als ich und spielte besser. Ich musste mich fragen, ob das an meinem Mangel von Talent, Ehrgeiz oder Fleiß lag? Vermutlich war es eine Mischung von allen.

Die Reifeprüfung absolvieren wollte ich aber doch. Mit dem so erlernten Niveau wäre ich wohl kein bekannter Solist geworden, aber auf einen Platz  in einem guten Orchester hätte ich wohl hoffen dürfen. Damals überlegte ich auch eine Laufbahn als Dirigent und studierte nach der „Konzertreifeprüfung“ Violoncello ein paar Semester beim Komponisten und Dirigenten Alfred Uhl.

Wenig später  stand ich freilich vor meiner Diplomarbeit als Chemiker – ab diesem Zeitpunkt schien eine weitere Ausbildung zum Musik-Profi weder machbar noch sinnvoll.

Aber zurück zur Schule. Die Atmosphäre im Musikgymnasium war deutlich besser als zuvor im Rainergymnasium, wo ich die Unterstufe absolviert hatte (siehe den Bericht „Aufmüpfiger“). Ich besuchte, wie gesagt, den ersten Jahrgang des neuen Schulversuchs. Für den Initiator und Schuldirektor Hans Zwölfer waren wir „Versuchskaninchen“ , die ihm am Herzen lagen.

Wir fühlten uns privilegiert und waren es wahrscheinlich auch. Unser Klassenvorstand war der Dirigent und Organist Friedrich Lessky, er unterrichtete das wichtige Fach Musik.

Die Klassengemeinschaft war nicht ausgeprägt, Starallüren einzelner Kommilitonen förderten den Zusammenhalt nicht. Immerhin fanden gemeinsame Konzerte im Festsaal der Schule statt, siehe das Programm des ersten Auftritts im Jahr 1965 – ich gab damals ein Duo für zwei Violoncelli vom barocken Komponisten Willem de Fesch zum Besten.

Mit Klassenkollegen Heinz Rank im Wasagymnasium.

Während der Oberstufe ging ich oft in die Staatsoper und in Konzerte mit meist klassischer Musik. Die Zauberflöte hatte mich schon immer fasziniert, also Volksschüler versuchte ich beharrlich, die Koloraturarie der Königin der Nacht „nachzukicksen“. Der Tenor Giuseppe di Stefano war für mich ein Highlight in Puccinis Oper Tosca, Eugen Onegin von Tschaikowsky mit Fritz Wunderlich interessierte mich ebenso wie das Musical West Side Story von Leonard Bernstein. Zu Richard Wagner hatte ich eine ambivalente Einstellung, Parsifal mochte ich jedenfalls mehr als die Meistersinger von Nürnberg,

In Konzertsäle ging ich oft, um Pianisten und Violoncellisten zu erleben. Swjatoslaw Richter und Friedrich Gulda zählten für mich zu den eindrucksvollsten, Wladimir Horowitz und Arturo Benedetti-Michelangeli konnte ich leider nicht so oft hören. Marta Argerich begann mich erst später zu faszinieren. Von den Violoncellisten  begeisterten mich Mstislaw Rostropovich und André Navarra.

Pop- und Rock-Konzerte besuchte ich kaum. Den Rolling Stones konnte ich wenig abgewinnen, aber dafür war ich ein früher Fan der Beatles:

Als Gymnasiast mit Beatles-Mähne am Pittener Weg in Guntrams (siehe „Landwirt“).

Mit jedem höheren Jahrgang der Oberstufe dezimierte sich unsere Klasse: Einige hatten mit der Schule aufgehört, aber „über uns“ gab es keine Klasse, aus der jemand, weil durchgefallen, zu uns stoßen und die Unterrichtsbänke hätte „auffüllen“ können. Bei der Matura waren wir nur noch neun Kandidaten. Aber alle bestanden die Prüfungen . . .

Danach gab es Jahrzehnte lang keine Klassentreffen, niemand zeigte Interesse daran. Erst zum 50-Jahr-Jubiläum des Musikgymnasiums organisierten Friedrich Lessky, Heinrich Schiff und ich den „U19 Wettbewerb für Kammermusik“ zum Gedenken an die Gründung des Musikgymnasiums.

Der Wettkampf fand in einem neuen und modernen Gebäude der Musikuniversität statt, die aus der alten Akademie für Musik und Darstellende Kunst hervorgegangen war, siehe das folgende Video. Ich erkannte im Laufe des Bewerbs, dass die Anforderungen an Instrumentalisten und deren technisches Niveau seit meiner Studienzeit noch weiter angestiegen waren.

Chemie oder Musik?

Nach der Matura hätte ich zum Wehrdienst einrücken müssen, aber da ich weiterhin Cello studierte, war es einfach, einen Aufschub zu erwirken.

Im Herbst 1969  immatrikulierte ich an der Universität Wien und begann mit dem Fach Chemie. Vorlesungen und Laborübungen fanden in einem Gebäudekomplex in der Währingerstraße statt, unweit vom Musikgymnasium (siehe den Bericht „Chemiker“).

Mein Cellolehrer war nicht erfreut, denn mit der Entscheidung für das Chemiestudium war absehbar, dass aus mir eher kein Musiker werden würde. Wozu hatte er sich dann die ganze Arbeit mit mir angetan?

In den ersten Semestern Chemie war die Entscheidung zwischen Musik und Naturwissenschaft für mich aber noch nicht endgültig gefallen.

Auch danach, als promovierter Chemiker und später als angelernter Journalist, sah ich das musikalische Üben nie als „verlorene Zeit“: Musik ist Teil meines Lebens geblieben.

Im Juni 1973 bestand ich die Diplomprüfung im Fach Violoncello. Damals stand ich im 8. Semester des Chemiestudiums. Dass ich beide Studien parallel und in der dafür vorgesehenen Zeit schaffen würde, hatten andere nicht für möglich gehalten.

Zur öffentlichen Diplomprüfung im Konzertsaal der Musikuniversität in der Johannesgasse spielte ich die Sinfonia Concertante von Sergei Prokofiev. Sie ist für ihre technischen Schwierigkeiten berüchtigt – der Komponist hatte sie seinem Freund Mstislav Rostropowitsch gewidmet, der damit sein stupendes Können unter Beweis stellen konnte (was mich dazu animierte, mich mit dem spröden, aber eindrucksvollen Werk auseinanderzusetzen). Am Steinweg Flügel begleitete mich Carlos Rivera Aguilar:

Hier der erste Satz der Sinfonia Concertante – der Live-Mitschnitt stammt von der öffentlichen Diplomprüfung am 14. Juni 1973  im damaligen Konzertsaal der Akademie in der Johannesgasse:

Der nachfolgende zweite Satz ist technisch sehr anspruchsvoll:

Für eine Auszeichnung im Zeugnis reichte es nicht. Damit hatte ich auch nicht gerechnet.

 

 

Konzerthaus ist fürs Profispiel,
das Hauskonzert gibt Laien viel.

Während meiner Diplomarbeit und Dissertation in organischer Chemie trat der Gedanke an eine Karriere als Musiker zwar in den Hintergrund. Das hinderte mich aber nicht, Chemikerkonzerte zu veranstalten, bei denen Professoren, Assistenten und Studenten gemeinsam auftraten – denn unter ihnen gab es nicht wenige musische Begabungen (siehe den Beitrag „Chemiker“). Die Auftritte fanden in einem Hörsaal am Institut für Physik in der Strudlhofgasse statt.

Mit den Chemikerkonzerten wollte ich die oft hitzige Atmosphäre in den neuen Studienkommissionen durch „drittelparitätisch besetztes“ gemeinsames Musizieren verbessern.

Später lud ich Freunde und Bekannte zu privaten Auftritten in kleinen Konzertsälen. Im Anschluss daran wurde gegessen und getrunken, die Hauskonzerte waren eine gute Gelegenheit, Netzwerke aufzubauen und zu pflegen.

Manchmal begleitete mich Carlos Rivera-Aguilar, den ich schon von der Musikakademie als genialen Korrepetitor kannte (wenn ich beim Spielen nervös war und versehentlich ein paar Takte ausließ, sprang er sofort mit und tat, als ob nichts passiert wäre):

Mit Carlos Rivera-Aguilar
bei einem Hauskonzert . . .

Viele Auftritte absolvierte ich mit dem leider zu früh verstorbenen Osfried Olaj, ehemals Professor für Physikalische Chemie an der Uni Wien. Bei ihm bin ich übrigens das einzige Mal bei einer Prüfung durchgeflogen, aber das Malheur war danach bald vergessen:

. . . und mit Oskar Friedrich Olaj.

Tondokumente von diesen Hauskonzerten habe ich keine. Nur aus dem Jahr 1997 gibt es einen technisch mäßigen Mitschnitt von einem Auftritt im Gastgarten der Schlossgasse 21 – ich spielte damals für den Geburtstag von Rüdiger Wolf, Geschäftspartner und Freund der Familie, die F-Dur Sonate von Johannes Brahms; Carlos Rivera begleitete mich am Klavier (das war 24 Jahre nach meiner Diplomprüfung in Violoncello).

Konzert im Gastgarten der Schlossgasse 21 (1997)

Wie attraktiv ist
das Leben eines Musikstars?

Die Karriere als Musiker schlug ich letztlich nicht ein. Aber wie es denen geht, die in ihrem Metier an die Spitze kommen wollen oder gar dort stehen, das interessierte mich natürlich weiterhin.
Als der berühmte Cellist Mstislav Rostropovich im Jahr 1974 die Sowjetunion verließ, lebte er eine Zeit lang in Wien und es gab einige Treffen mit ihm in Wien und in Guntrams am Landhaus meiner Mutter.
Ein paar Jahre später traf ich Rostropovich in Paris und spielte ihm in seiner damaligen Wohnung nahe vom Arc de Triomphe am Cello vor.
An einem sonnigen Samstag holte ich ihn um 11 Uhr morgen von einer Konzertprobe ab und wir besuchten eine kleine Bar in der Avenue George V. Rostropovich bestellte Wodka und war ganz konsterniert, als ihm der Barman ein Glas mit Wodka reichte: Er wollte die ganze Flasche haben (die wenig später leer war).
Damals gelang es mir, ein Treffen zwischen ihm und dem französischen Cellisten André Navarra zustande zu bringen, mit dem ich über zwei Jahrzehnte freundschaftlichen Kontakt hatte.
Das denkwürdige gemeinsame Essen der beiden Stars fand in Paris statt:

mit André Navarra und Mstislav Rostropovich in Paris

Den Lebensweg von Rostropovich konnte ich nach seiner Übersiedlung in die USA im Jahr 1977 nicht mehr persönlich verfolgen, ich traf ihn erst viel später wieder in Wien und das nur kurz. Ob er im Exil glücklich geworden oder doch eher heimatlos geblieben ist? Ich kann es nicht sagen.
Er war ein engagierte Kämpfer für Demokratie und Menschenrechte, weshalb er die Sowjetunion verließ und beim dortigen Regime für viele Jahre in Ungnade fiel. Erst ganz am Ende seines Lebens kehrte er schwerkrank nach Moskau zurück. Über die Stimmung bei seinem Treffen mit Wladimir Putin zur  Feier des 80. Geburtstags  im Kreml gibt es unterschiedliche Aussagen. Immerhin ist er in der Heimaterde begraben.
Deutlich länger und intensiver war ich mit André Navarra in Kontakt, verfolgte seine Konzerte, die Jahre im voraus geplant waren und seine Unterrichtstätigkeit in verschiedenen Ländern und Sprachen, darunter auch in Wien. Am wenigsten hielt er sich „zuhause“ in Paris auf, in seiner Wohnung in der Rue de Moscou. Zu so einem rastlos hektischen Leben ist nur fähig, wer dazu innerlich getrieben ist und das auch zulässt. Navarra hat es genossen, aber Zweifel klangen in den 1980-er Jahren dann und wann doch durch.
Ruhm und Applaus sind schön, sie mögen auch reich machen, aber der Preis, den man mit dem dadurch erzwungenen Nomadentum bezahlt, ist gleichwohl ein hoher.
Bei meinem Schulkollegen Heinrich Schiff kam eine mysteriöse Krankheit dazu, die seine Weltkarriere früh beendete.
Für mich waren die erwähnten freundschaftlichen Kontakte mit Rostropovich, Navarra und Schiff gleichwohl lehrreich, weil ich – quasi hinter den Kulissen – erkennen und lernen  konnte, dass und wie nur ganz wenige eine Karriere bis zur Weltspitze schaffen.
Es war auch Spaß dabei. So fuhr ich im Jahr 1981 mit Navarra durch Norditalien. Wir besuchten den Geigenbauer Alfredo Gianotti im Norden von Mailand. Dort probierten wir ein knappes Dutzend von Gianotti gebaute Instrumente und diskutierten über die Unterschiede im Klang. Am nächsten Tag kauften Navarra und ich je ein Cello.

André Navarra und Geigenbauer Alfredo Gianotti in Mailand (1981).

Noch heute spiele ich das italienische Instrument – in Zukunft wahrscheinlich nur mehr für mich privat.

Faszination der Weltmusik

Wie kam der Mensch im Laufe der Urgeschichte auf die Musik? Schon in der Schulzeit hatten mich die verschiedenen Tonleitern der alten Griechen fasziniert, von denen jede aus verschiedenen Intervallabständen bestand, womit heitere und traurige Stimmungen erzeugt worden sein sollen.

Dass eine Oktave in zwölf gleiche Halbtöne zerlegt wird, ist heute selbstverständlich, aber das war nicht immer so. Denn auch die Reihe der Obertöne ergibt davon abweichende Frequenzen. Andere Völker hatten verschiedene, oft pentatonisch aufgebaute Melodien. Rätsel über Rätsel, die die Musikethnologen bis heute nicht gelöst haben.

In der klassischen Musik gibt es Dur und Modell, Terzen, Quarten und Quinten. Sind das naturgegebene Universalien? Für die in Wien entstandene „Harmonikale Grundlagenforschung“ war das so. Man bezog sich dabei auf Pythagoras, Johannes Kepler und mathematische Naturgesetze, aus denen sich die sogenannte Sphärenmusik ergibt. Damals fand ich das Konzept naheliegend. Später wurde ich skeptisch.

Als ich das erste Mal die Insel Bali besuchte und der Klangfülle eines traditionellen Gamelan-Orchesters lauschte, lernte ich eine ganz andere, jedoch überaus eindrucksvolle Musik mit unbeschreiblichen Klangfarben und Schwingungen kennen, die mit unseren gelernten Musikstilen praktisch nichts gemein hat (außer dem Baumaterial für die metallenen Gongs).

Auch der französische Orgelkünstler Olivier Messiaen komponierte fremdartige, aber dennoch harmonisch wirkende Musik, die mich immer wieder fasziniert. Messiaen entlehnte seine Werke aus indischen Rhythmen, gregorianischen Melodien und Gesängen der Vögel.

Er assoziierte Musik mit Farben – ähnlich, aber gleichwohl anders als der Moskauer Pianist und Komponist Alexander Skrjabin, der sein Farbenhören auf einzelne Tonarten bezog. Gegen Ende seines Lebens wollte Skrjabin sogar Düfte in sein Gesamtkunstwerk integrieren. In Summe entfernte auch er sich von den traditionellen Musikstilen Europas.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts griff der US-amerikanische Physiker Brian Greene die Sphärenklänge der Pythagoreer wieder auf und konstatierte: „Mit der Entdeckung der Superstringtheorie gewinnen diese musikalischen Metaphern eine verblüffende Realität“.

Ist das so? Ich weiß es nicht. Für mich gilt:

Das Schöne an der Musik ist:
Sie braucht keine Erklärung,
sie entzieht sich ihr.

PS: Akustische Videodokus von Bali bis Bahia sind am Ende des Berichts „Reisender“ zu finden.

ANHANG

Zur Frage der besten Bogenführung

Während der Oberstufe des Gymnasiums ging ich oft in den Wiener Musikverein, ins Konzerthaus und in die Oper. Ein Konzert des Cellisten Mstislav Rostropovich im Jahr 1966 begeisterte mich besonders Seine Technik, Cello zu spielen, war ganz anders als auf der Musikakademie unterrichtet wurde, der Korpus des Instruments lag viel flacher zwischen den Knien als sonst, weil der Stachel nach unten gebogen war. So konnte Rostropovich in einem ziemlich flachen Winkel über die Saiten seines Instruments rauf unter runter flitzen:

Mstislav Rostropovich 1966.

1967 organisierte mein Lehrer Kühne einen Wettbewerb für Violoncello, sein Lehrmeister André Navarra saß auch in der Jury – die Auswahl der Sieger war für mich spannend und lehrreich zu beobachten.
Die teils gravierenden Unterschiede zwischen Wiener, französischer und den im Südosten Europas verbreiteten technischen Varianten von Körperhaltung und Spieltechnik wurden dabei beobachtet, diskutiert und unterschiedlich beurteilt, je nach dem Standpunkt des Jurors.
So unterschied sich die Bogentechnik von André Navarra markant von der Wiener Spielart. So gesehen  war es erstaunlich, dass Navarras Schüler Tobias Kühne überhaupt eine Professur an der Wiener Musikakademie bekommen hatte (später wurde aus ihr die heutige Universität).
Navarras Bogentechnik gilt für viele als überlegen, jedoch argumentieren die Verfechter der Wiener Tradition bis heute, dass ihr Vibrato spezielle Vorzüge habe – als ob das eine das andere ausschließen müsse.
Kenner der Materie brauchen gar nicht erst einen Ton zu hören, sie können schon an der Haltung und Bewegung der Hände und Finger vermuten, aus welchem „Stall“ ein Streicher kommt.
Dazu ein vereinfachtes Beispiel: Mit „französischer“ Technik führt die rechte Hand den Bogen so, dass die Saite am Beginn des Bogens genauso intensiv klingt wie an dessen Spitze (was wegen der dort erforderlichen Hebelwirkung viel Muskelkraft erfordert und die Schulter nach längerem Üben zum Schmerzen bringt).
Im Gegensatz dazu erzeugen manche Musiker bei jedem Auf- und Abstrich einen „Klangbauch“: in der Mitte des Bogens erklingt der Ton am kräftigsten, weil das dort am einfachsten zu erzielen ist, an der Spitze und nahe am Beginn des Bogens (dem sogenannten Frosch) wird er dagegen leiser: An der Bogenspitze braucht man den erwähnten Hebeldruck und nahe am Frosch hört man beim Wechsel zwischen Aufstrich und Abstrich kratzende Nebengeräusche, vor allem dann, wenn man laut spielt und die Kunst des Bogenwechsels nicht beherrscht. Dieses Kratzen beim Saitenwechsel zu verhindern, ist überhaupt eine schwierige Sache, es braucht eine gut trainierte Flexibilität der rechten Finger und des Handgelenks.
Die Haltung des Bogens kann individuell ziemlich verschieden sein. So zeigen die rechten Finger bei Tobias Kühne steiler nach unten als bei Navarra (die Hände der beiden sind allerdings sehr unterschiedlich geformt).

Bogenhaltung von Tobias Kühne . . . 

. . . und im Vergleich André Navarra.

Über die Feinheiten von Navarras Bogentechnik gibt es für näher Interessierte ein eigenes Video, das Kühne auf der Musikhochschule produzieren ließ. Auch ein Buch wurde darüber veröffentlicht: https://www.bibliothekderprovinz.at/buch/6357/
Diese Unterschiede kennen zu lernen, war für mich sehr lehrreich. Ich erfuhr, dass es auch für Instrumentalisten nicht nur einen Weg gibt, der „nach Rom führt“. Auf jedem dieser Wege gilt jedoch dieselbe Regel für professionelle Musiker: Perfektion ist alles.