Kämmerer


Stefan M. Gergely mit Dr. Klaus Smolka (Nahrungsmittelverband) und Univ.Prof. Dr. Kurt Widhalm (Kinderarzt und Ernährungsfachmann), v.l.n.r.

Inhalt:

  • Wer vorwärts will und ohne jammern, der schafft das auch in Wirtschaftskammern
  • Was macht ein Chemiker als Referent für Lebensmittelrecht?
  • Kontroversen um das Färben von Lebensmitteln.
  • Eine Palme fürs Palais
  • 1979: Äthanol aus Biomasse
  • 1981: Richtlinien für biologischen Landbau
  • 1982. Schulbuch für Ernährung und Symposien
  • Vom Lebensmittelrecht zur Informationstechnik
  • Computerseminare
  • Fachinformationsführer
  • In Brüssel: Europäischer Datenverbund
  • Gescheiterte Projekte

Wer vorwärts will und ohne jammern,
der schafft das auch in Wirtschaftskammern.

Im Herbst 1977, während eines Postdoc-Studienaufenthalts in Paris, erhielt ich das Angebot für einen Job im Nahrungsmittelverband der Bundeswirtschaftskammer (heute WKO). Es war auf Empfehlung von Raoul Kneucker zustande gekommen.

Ich reiste nach Wien und führte ein ausführliches Gespräch mit dem Juristen Klaus Smolka, der mein künftiger Chef sein würde.

Das Angebot sah vor, dass ich am 1. März 1978 eine Probezeit im Nahrungsmittelverband beginnen sollte:

 

Ich ergriff die Chance.

Die Verlängerung des Vertrags auf Probe erwies sich wenig später als Formsache. Ich hatte eine Fachprüfung für den sogenannten Konzeptsdienst zu absolvieren, bei der man über das System der Kammerorganisation, Grundlagen des Gewerberechts u.a. befragt wurde. Die Prüfung bestand ich im November 1979.

Was macht ein Chemiker
als Referent für Lebensmittelrecht?

Das wurde mir recht bald klar: Kurz vor meinem Eintritt hatten Verhandlungen mit dem Gesundheitsministerium und den Sozialpartnern begonnen, in denen über die Zulässigkeit von Zusatzstoffen in Lebensmitteln debattiert, manchmal auch gestritten wurde. Die Basis dafür war ein neues Lebensmittelgesetz, das 1975 in Kraft getreten war.

Da ging es um Farbstoffe, Emulgatoren, Stabilisatoren, lauter chemische Substanzen, zumeist solche mit den berühmten „E“-Nummern. Für diese war chemisches Wissen genauso wichtig wie die Kenntnis von Paragraphen (auf letztere war Klaus Smolka sowieso spezialisiert).

Außerdem stand die Lebensmittelindustrie im Kreuzfeuer öffentlicher Kritik. Das war an sich nichts Neues, denn schon im 19. Jahrhundert war gegen Konserven gewettert worden, Industriekost sei schädlich und daher pfui Teufel. In neuerer Zeit stellte man auch die Zusatzstoffe und Schadstoffe im Essen an den Pranger. Die Hersteller schienen in der Defensive.

Zugleich erstarkten Reformbewegungen. Die sogenannte Vollwertkost wurde in manchen Medien als Inbegriff des Guten gepriesen.

An diesen Fronten für kühlen Kopf und belegbare Fakten zu sorgen, war eine schwierige Aufgabe. Es gab zwar die Österreichische Gesellschaft für Ernährungsforschung, die Kontakte zu einschlägigen Wissenschaftlern pflegte und eine Zeitschrift herausgab. In der Öffentlichkeit wurde aber wenig Notiz davon genommen.

Der Fachverband für Nahrungs- und Genussmittel, in dem ich arbeitete, war gesetzliche Interessensvertretung und organisatorisches Dach für verschiedene Sparten, für alkoholfreie Getränke, Fleisch, Gewürze, Bier, Spirituosen, Futtermittel,  Zucker- und Süßwaren und andere. Für jeden dieser „Unterverbände“ waren in der Kammer eigene Mitarbeiter zuständig, die „ihre“ Hersteller zu betreuen hatten.

Die letzteren verfolgten oft unterschiedliche Ziele und waren untereinander ebenso oft verschiedener Meinung. Sie unter einen Hut zu bringen, schien ein Ding der Unmöglichkeit.

Mit Martin Pecher, Obmann des Nahrungsmittelverbandes und Eigentümer der Firma Inzersdorfer, um 1980.

Es verlangte niemand von mir, Werbekampagnen zur Schönfärberei von verarbeiteten Lebensmitteln zu unterstützen. Ich hätte derlei Ansinnen auch abgelehnt und wäre das mit meinen Jobs für profil und den ORF unvereinbar gewesen.

Die meisten (nicht alle) Funktionäre waren froh über meine fachliche und journalistische Arbeit, die sich streng am Grundsatz „Sagen, was ist“ orientierte (so lautete der Grundsatz von Rudolf Augstein, des legendären Gründers vom deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel).

Kontroversen um das Färben von Lebensmitteln.

Viele Tücken lagen freilich im Detail. Das erfuhr ich bald nach meinem Dienstantritt, als ich einen überraschend großen Katalog von Farbstoffen zu beschreiben und zu beurteilen bekam. Die Hersteller wollten möglichst viele Farbstoffe in Lebensmitteln einsetzen dürfen, die Konsumentenschützer verweigerten möglichst alle.

Vor dem Hintergrund dieser kontroversiellen Standpunkte formulierte ich programmatisch den folgenden Grundsatz (detaillierte Ausführungen sind im nachstehenden Link zu lesen): „Dem Gesetzgeber obliegt es . . . , Maßnahmen zur Verhinderung einer Überfärbung vorzusehen sowie Farbstoffe, deren Gesundheitsschädlichkeit erwiesen ist, von den Zulassungslisten auszunehmen . . .“. Der emotionalisierte Fanatiker oder geistige Grenzproduzent könne nicht Maßstab für die Anwendung von Gesetzen sein, argumentierte ich.

Fachartikel Lebensmittelfarbstoffe

In Summe forderte mich der Kammerjob, aber er gefiel mir besser als erwartet. Smolka gewährte mir genügend Freiraum, wir diskutierten grundsätzliche Fragen und waren nicht immer einer Meinung, aber es zählte am Ende das Ergebnis.

Von links: Klaus Smolka, Ehefrau des damaligen Präsidenten der Ernährungsgesellschaft ÖGE und rechts der Physiologieprofessor Wilhelm Auerswald von der Universität Wien. 

In lebhafter Erinnerung ist mir eine stundenlange Verhandlung über die Farbstoffverordnung. Sie fand nahe vom Wurstlprater statt, in einer baulich vernachlässigten Dependance des Gesundheitsministeriums. Von der Firma Unilever hatten wir verschiedene Sorten von Speiseeis bekommen, als Beleg für den Sinn des Färbens.

Anwesend waren unter anderen der weithin gefürchtete „Lebensmittelpapst“ Friedrich Petuely von der Bundesanstalt für Lebensmitteluntersuchung und sein Wiener Pendant Alfred Psota. Beide kosteten das Eis, vor allem der zweitgenannte, und aßen im Zuge der langen Diskussion fast alles auf.

Die streitvollen Szenen beeindruckten mich so, dass ich daraus den Entwurf zu einem Theaterstück machte (eigentlich war es kein Theaterstück, denn die Gespräche trugen sich ziemlich genauso zu wie beschrieben, nur der Traum im Nachspiel des Textes ist erfunden).

Klaus Smolka schickte mir den Entwurf mit dem Vermerk retour: „Selten so viel gelacht!“ Eigentlich wollte ich, dass der Beitrag, unter Umständen in gekürzter Form, in der Zeitschrift „Ernährung“ veröffentlicht wird. Aber es kam nicht dazu. Die Fronten im Streit ums Färben schienen damals so festgefahren, dass niemand den Jux riskieren wollte. Schade.

Theaterstück zur Farbstoff VO

Eine Palme fürs Palais

Mein Büro im Nahrungsmittelverband befand sich in einem stattlichen neoklassizistischen Bau in der Zaunergasse, dem Palais Fanto, benannt nach einem Ölmillionär aus Galizien. Später war es Sitz des österreichischen Branntweinmonopols und auch des Arnold Schönberg Centers – eine ungewöhnliche historische Abfolge.

Die Räumlichkeiten waren großzügig, mit hohen Decken und gediegenem Interieur. Aber es fehlte in meinem Büro was Grünes. In der Bundesgärtnerei beim Schloss Belvedere kaufte ich eines Tages eine Palme und stellte sie in meinem Büro auf. Sie sollte mich das ganze Berufsleben hindurch begleiten. Derzeit steht sie in meinem Büro am Margaretenplatz, sie dürfte inzwischen (2024) an die 60 Jahre alt sein.

Zum ersten Mal in meinem Leben war mir damals eine Sekretärin zugeteilt. Ich „übernahm“ sie von meinem Vorgänger Hermann Gruber. Der war studierter Jurist, hatte die Agenden des Lebensmittgesetzes 1975 wahrgenommen und war dann in den Verband der Brauereien übersiedelt; ich sollte seine Arbeit im Dachverband als Chemiker fortführen.

1979: Äthanol aus Biomasse

Im Jahr 1979 vertiefte sich die öffentliche Diskussion, ob die Erzeugung und Beimischung von „Biosprit“ (aus Zuckerrüben oder Zuckerrohr gewonnener Alkohol) zum Benzin sinnvoll sei – das Thema wurde durch die Folgen der Ölkrise 1973 und Warnungen vor einer baldigen Verknappung fossiler Brennstoffe befeuert. Brasilien galt als Vorbild für den Einsatz von Biosprit.

Damals war ein Freund von mir, Christian Thalhammer, im Bundesministerium für Handel, Gewerbe und Industrie angestellt. Wir diskutierten über eine Literaturstudie zu diesem Thema. Wenig später kam der Auftrag. Die Arbeit für das Handelsministerium stellte ich im August 1979 fertig.

Äthanol aus Biomasse

1981: Richtlinien für biologischen Landbau

Wenig später rückte der biologische Landbau in den Fokus interner Planungsdiskussionen: Die meisten Lebensmittelverarbeiter sahen die Bio-Bauern und ihre als gesund angepriesenen Produkte als „Schmutz-Konkurrenz“: Wenn diese Erzeugnisse alle so gesund seien, wie in den Medien häufig berichtet wurde, dann hieße das ja im Umkehrschluss, dass konventionelle Produkte minderwertig, wenn nicht sogar gesundheitsschädlich seien. Das gefiel den gewerblichen Herstellern gar nicht.

Dass inzwischen viele, auch große Erzeuger, auf den Bio-Zug aufgesprungen sind, war Anfang der 1980-er Jahre noch unvorstellbar.

Klaus Smolka, Otto Riedl und ich diskutierten, was man tun könne.

Ich hielt es für chancenlos, nur abwehrend zu argumentieren, dass Bioprodukte ja auch nicht „gesünder“ seien als konventionelle und dass es vielmehr darauf ankomme, was man esse und wieviel. Wirksam verbieten werde man sie nicht können.

Natürlich wäre auch eine Medienkampagne der Hersteller mit der Botschaft möglich gewesen, dass man sich mit Bioprodukten genauso falsch ernähren kann wie mit konventionellen, aber die Medien und Verbraucher hätten die Argumente wahrscheinlich ignoriert.

„If you can’t beat them, join them“, war mein Vorschlag.

Die obigen Argumente beförderten eine Wende: es sollten gesetzliche Regeln für biologische Produkte ausgearbeitet werden, um „Waffengleichheit“ zwischen konventionellen Erzeugnissen und solchen aus biologischem Anbau herzustellen.

So kam es zur europaweit ersten Kommission für den Bio-Landbau, sie war im Gesundheitsministerium angesiedelt und sollte verbindliche Richtlinien ausarbeiten.

In der Folge saß ich mehr als zehn Jahre in der neuen Bio-Kommission. Die Vertreter der Lebensmitteluntersuchungsanstalten und der Arbeiterkammer (für die mein späterer Lokal-Stammgast Renate Brauner anwesend war) wunderten sich, dass ich als Vertreter der Lebensmittelwirtschaft gar nicht gegen „Bio“ wetterte, sondern im Gegenteil für solche Richtlinien eintrat und den Grundsatz möglichst geschlossener Betriebskreisläufe teilte.

Am „Verhindern“ war vielmehr Otto Steineck, Professor für Pflanzenbauwissenschaft an der Hochschule für Bodenkultur (er hieß auch „Düngemittelpapst“, weil leicht lösliche Mineraldünger für ihn das Maß aller Dinge in der Landwirtschaft waren).

Der doppelte Doktor Friedrich Petuely von der Bundesanstalt für Lebensmitteluntersuchung und -forschung argumentierte anders, aber ebenfalls ablehnend: „Solange ich beim Endprodukt nicht analytisch nachweisen kann, ob es Bio ist oder nicht, halte ich von solchen Richtlinien nichts“.

Als Analytiker hatte Petuely natürlich recht. Der von ihm geforderte chemische Nachweis im Endprodukt lässt sich bis heute nicht erbringen. Aber darum ging und geht es nicht: Bio-Landbau steht für eine umweltschonende Ausrichtung von Anbaumethoden, die ohne leicht lösliche Mineraldünger, Herbizide und Pestizide auskommen. Allein dafür sind viele Verbraucher offenbar bereit, mehr zu zahlen.

Petuely war das auch klar, aber wenn man „anders angebaute“ Erzeugnisse bei der Probenziehung im Supermarkt schon nicht analysieren könne, dann müsse statt dessen ein anderes Kontrollverfahren her: Beispielsweise eine lückenlose Kontrolle der Produktion vom Erzeuger – über den Händler oder direkt vom Bauern – zum Verbraucher. Das schien für Petuely nicht machbar.

Mit dieser Skepsis war er nicht allein – viele andere hielten die dazu nötige Umorganisation des Groß- und Einzelhandels für kaum oder gar nicht umsetzbar. Heute ist weitgehend unumstritten: Ja, es geht doch (auch wenn „schwarze Schafe“ den Herkunftskontrollen da und dort auszuweichen versuchen).

Solange die oben genannten beiden Experten Steineck und Petuely in der Bio-Kommission saßen, kamen keine Richtlinien zustande. Immerhin hatten die anderen Anwesenden Gelegenheit, mögliche Ansätze zu überlegen und verschiedene Fachmeinungen anzuhören.

Als Steineck und Petuely ausgeschieden waren, kam Bewegung in die Sache. Die ersten Richtlinien für pflanzliche Produktionsmethoden wurden am 11. März 1985 beschlossen, für daraus erzeugte Folgeprodukte im Jahr 1989.

In der Zwischenzeit wurde aus meinem Angestelltenvertrag bei der Bundeswirtschaftskammer einvernehmlich ein Konsulentenvertrag mit dem damaligen Forschungsinstitut der Ernährungswirtschaft.

Auf diese Weise konnte ich meine Mitarbeit in den Codex-Kommissionen für biologische Lebensmittel, später für Schadstoffe in Lebensmitteln und für Vitaminisierung bis in die 1990-er Jahre fortsetzen – siehe die Dokumente in folgendem Link.

ff Konsulent

1982: Schulbuch für Ernährung und Symposien

Bereits Anfang der 1980-er Jahre schrieb ich ein Buch über Nahrung, Ernährung und Gesundheit. Die Approbation des Manuskripts als Schulbuch wurde vom  Bundesministerium für Unterricht im Jahr 1981 erteilt, es erschien ein Jahr später im Molden-Verlag.

Das Schulbuch war eine wichtige Etappe für meine Aufbauarbeit, es wurde in zahlreichen Auflagen weiter gedruckt. Ab 1990 erschien es als inhaltlich unveränderte Neuauflage im Manz-Verlag.

Anm: Erst viel später entdeckte ich, dass der Verlag im Jahr 2002 ein Buch mit dem Titel „Ernährungslehre“ und dem Untertitel „Nahrung, Ernährung, Gesundheit“ veröffentlicht hatte, das neben meinem Namen als Autor eine Frau Mag. Monika Fröschl nannte, die ich nicht kenne: Man hatte mein Konzept genommen, den Inhalt deutlich verändert und mich, ohne zu fragen, als Autor genannt. 

So sah der Cover der ersten Auflage aus.
Nachstehend der Text im Original:

Buch Ernährungslehre

Zu verschiedenen Ernährungsthemen organisierte ich außerdem wissenschaftliche Symposien: Eines beschäftigte sich mit Ernährungserhebungen, also wie man am besten herausfindet, wer was isst und trinkt, und warum und wie die Haushaltserhebungen des Statistischen Zentralamts verbessert werden könnten.

Die Ergebnisse wurden im Maudrich-Verlag veröffentlicht.

Dieses Buch war als Vorstufe für einen Österreichischen Ernährungsbericht gedacht (in Analogie zu Deutschland, wo ein solcher regelmäßig erscheint, zuletzt 2020). Ich bekam vom damaligen Gesundheitsminister Kurt Steyrer dazu den Auftrag für eine Literaturstudie. Sie wurde 1982 veröffentlicht, nachstehend eine Zusammenfassung:

Österreichischer Ernährungsbericht

Auf das Thema Ernährungserhebungen folgte ein Symposium mit dem Titel „Ernährungswissenschaft und Öffentlichkeit“:

Herausgeber Wilhelm Auerswald war, wie schon erwähnt, Vorstand des Instituts für Physiologie an der Universität Wien und unterstützte meine Aktivitäten nach Kräften.

Oft rief er mich vor 7 Uhr in der Früh an und wollte über Neuigkeiten des Tages diskutieren, die er den Zeitungen gerade entnommen hatte. Oft konnte ich nicht gut mitreden, weil ich noch schlaftrunken im Bett lag.

Nachstehend ein Foto aus dem Jahr 1980. Leider ist Auerswald viel zu früh verstorben.

. . . mit Physiologieprofessor Wilhelm Auerswald

Später erschien im Piper-Verlag das Buch „Diät – aber wie?“. Darin setzte ich mich kritisch mit mehr oder weniger skurrilen Diätaposteln auseinander.

Vom Lebensmittelrecht zur Informationstechnik

Zu meinen Kernthemen Lebensmittelrecht und Ernährung im Nahrungsmittelverband der Wirtschaftskammer kamen unvermutet neue Aufgaben mit neuen Inhalten hinzu.
So organisierte ich damals

  • ein Pilotprojekt für einen EDV-gestützten Datenverbund europäischer Handelskammern,
  • ein Forschungsprojekt zum Aufbau von Informationsvermittlungsstellen in Österreich sowie
  • Seminare über die Verwendung von Personal Computern am Hernstein Institut für Unternehmensführung.

Dass sich mein Job als Referent für Lebensmittelrecht und Ernährungsfragen so weiter entwickelte, war weder geplant noch voraussehbar gewesen.

Für die neue Computertechnik hatte ich mich zwar aus eigenem Antrieb interessiert, aber dass das so gewonnene Knowhow zu so vielen neuen Arbeitsfeldern führen würde, überraschte und freute mich – ich ergriff auch diese neuen Chancen.

Computerseminare

Das Thema Mikroelektronik war hochaktuell, aber die wenigsten kannten sich aus. Für das Nachrichtenmagazin profil erstellte ich erste praxisnahe Testberichte über EDV-Hardware und Software (siehe das Kapitel „Autor“). Wenig später galt ich als „Fachmann“ (der ich nie war).

Gemeinsam mit meinem Mitarbeiter Alois Göschl baute ich Seminare am Hernstein Institut für Unternehmensführung auf; sie liefen unter dem Titel „Der Personal Computer für Top-Manager“. Den Wirtschaftsbossen sollte nahe gebracht werden, dass sie sich selbst mit den neuen Technologien auseinandersetzen und diese Aufgabe nicht an Sekretäre und Sekretärinnen delegieren sollten.

Der Zuspruch war groß, in vielen Fällen war es jedoch nicht einfach, unerwartete Hemmschwellen zu überwinden. Eine davon war, dass nicht wenige Firmenchefs mit einer Tastatur nicht umgehen konnten (oder wollten) . . .

Später adaptierten wir die PC-Seminare für Handelsdelegierte der Bundeswirtschaftskammer.

Seminare Hernstein

Je mehr Extra-Jobs ich bekam, desto seltener war ich im Büro des Nahrungsmittelverbandes anwesend. Mein Chef Klaus Smolka ließ meine „Eskapaden“ zwar zu. Aber schrittweise wurde klar, dass er mich nicht werde halten können.

Immerhin  war ich in Sachen Ernährung sehr aktiv gewesen und hatte die Basis für künftige Entwicklungen in der Branche gelegt. Einige Agenden betreute ich noch bis Ende des Jahres 1994 als Konsulent weiter.

Fachinformationsführer

Bereits 1980 hatte mich Otto A. Simmler, Ministerialrat im Bundeskanzleramt, mit einem Projekt beauftragt, das „Fachinformationssystem Ernährung“ genannt wurde. Der 260 Seiten lange Bericht erschien im August 1981 in hektografierter Form. Simmler wollte im Rahmen eines deutsch-österreichischen Gemeinschaftsprojekts das sogenannte IVS-Modell aufbauen (IVS steht für Informationsvermittlungsstellen).

Fachinformationssystem Ernährung

Die IVS sollten „Drehscheiben“ für einzelne Fachrichtungen werden und als Vorstufe für die Vermittlung und Auswertung von online-Datenbanken dienen.

Ziele waren

  • das Bibliothekswesen zu reformieren und zu digitalisieren,
  • verfügbares Fachwissen näher an die Allgemeinheit zu bringen.

Nach dem Pilotprojekt Ernährung begann ich mit der Arbeit an weiteren Fachinformationsführern, unter anderen über Medizin, Lebensmittel- und Agrarwissenschaften sowie Umweltschutz.

Sie wurden vom Wissenschaftsministerium finanziert und im Böhlau Verlag veröffentlicht (Mitarbeiter waren unter anderen Oliver Dworak, Hans Mosser, Wolfgang Preinsperger und Franz Tomandl):

In dieser Phase hatte ich zusätzlich zu meinen beiden Büros im Nahrungsmittelverband und in der Gartengasse (siehe „Autor“) noch ein drittes Büro im ersten Stock des altehrwürdigen Palais Porcia an der Freyung. Dort war eine Ludwig Boltzmann Forschungsstelle mit dem umständlichen Namen „für informationstechnologische Systemforschung“ (abgekürzt LIT) eingemietet, deren Leiter der oben genannte Otto A. Simmler war.

Die Aufbauarbeit für die Informationsstellen zeigte freilich keine bleibende Wirkung. Das heimische Bibliothekswesen blieb weitgehend so, wie es immer schon gewesen war. Die treibenden Kräfte der online-Technologie dagegen kamen aus den USA und sollten das weitere Geschehen auch weiterhin dominieren.

Anmerkung: Im Jahr 1989 entstand die Vorstufe des heutigen Internet, Das Projekt Google ging 1997 online. Im Rückblick war es wie eine mächtige Dampfwalze, die über die zu wenig ambitionierten europäischen Aufbauversuche hinwegfegte und globale Datenkraken etablierte, die sich bis heute fest in den Händen ihrer US-Eigentümer befinden.

Dagegen hatten heimische Erfindungen wie das MUPID (ein bildschirmtextfähiges multifunktionales Terminal) keine Chance, 1983 wurde zwar eine Firma zur Vermarktung des Geräts gegründet, aber bereits 1989 war das mit viel TamTam gefeierte „österreichische Vorzeige-Modell“ Geschichte.

Erfolgreicher sollte das ebenfalls im Bundeskanzleramt entwickelte Rechtsinformationssystem werden, das heute unter www.ris.bka.gv.at zum unverzichtbaren Bestandteil der heimischen Juristerei zählt. Im Unterschied zu den IVS-Projekten von Simmler konzentrierte sich das RIS auf österreichische Rechtsquellen und erlangte in dieser nationalen Nische ein Quasi-Monopol. Für die USA war dieser Markt offenbar nicht von Interesse.

Dagegen waren die IVS-Projekte Simmlers auf wissenschaftlich-technische Bereiche und daher global ausgerichtet – sie hatten gegen die Dominanz der USA keine Chance.

Anfang der 1980-er Jahre war außerdem unvorstellbar, dass es eines Tages Unternehmen wie Google geben würde, die jedem erlauben, mit einem Laptop oder Smartphone weltweit Daten abzufragen und auszutauschen.

Damals waren zwar beispielsweise Recherchen in „Medline“ möglich, einer Datenbank über medizinische Forschungsarbeiten; sie bot aber noch keinen Volltext an (das hätte die vergleichsweise geringe Kapazität im Datentransfer überfordert), sondern man musste Deskriptoren eingeben und erhielt Hinweise auf herkömmlich edruckte Fachartikel (die man dann in einer herkömmlichen Bibliothek ausheben musste).

Heute sind die Volltexte von wissenschaftlichen Arbeiten aus aller Welt jederzeit online abrufbar. Damit teilt sich die Entwicklungsgeschichte von Druckwerken in zwei Sphären: vor und nach der Digitalisierung. Alles, was nicht oder noch nicht digital erfasst und durchsuchbar ist, muss man weiterhin in Bibliotheken aufstöbern oder in einem Antiquariat kaufen. Alles Neue kann man am Bildschirm lesen.

In Brüssel: Konzept für europäischen Datenverbund

1982 begann ein weiteres ambitioniertes Projekt, das in dieselbe Richtung wies: Helge Schöner von der Außenhandelsabteilung der Wirtschaftskammer war damals der österreichische Verbindungsmann für ein EDV-gestützten Datenverbundsystem europäischer Handelskammern und schlug mich als Manager für das neue Projekt vor.

Wenig später war ich oft bei Sitzungen im Brüsseler Hauptquartier. Das Projekt war in der Abteilung DG III/B/1 der Europäischen Kommission (korrekt: ihres Vorläufers) angesiedelt und sollte die europäische Informationsindustrie voranzutreiben helfen, als Gegengewicht zu den USA gewissermaßen.

Zunächst hatte ich detaillierte Berichte über Kammerorganisationen in Europa, von Italien (Rom und Padua) bis England (London) zu erstellen, die ich alle vor Ort besuchte und befragte: Welche Rechner verwenden sie? Was für Telekommunikationseinrichtungen sind vorhanden? Welche Daten der Mitgliedunternehmen werden gesammelt? In welchem Dateiformat werden sie gespeichert?

Es stellte sich heraus, wie zu erwarten war: Jede Kammer hatte ihr eigenes System und wollte daran festhalten. In Brüssel begann eine kontroverse Diskussion zur weiteren Strategie: Die einen sagten, ein Verbundsystem mit den existierenden Daten sei zwecklos, weil zu kompliziert, die anderen meinten, man müsse von der Pieke auf eine neue Datenbank errichten und die nationalen Handelskammern sollten sie nachher implementieren.

Nach längerer Debatte wurde für einen technischen Versuch auf Basis der etablierten Systeme entschieden. Eine telefonische „Standleitung“ zwischen Wien und Padua wurde errichtet und so gelang wenigstens eine erste, modellhafte Kommunikation zwischen italienischen und österreichischen Datenbanken.

Gescheiterte Projekte

Ähnlich wie die Versuche mit den oben erwähnten österreichischen Informationsvermittlungsstellen Simmlers verlief auch das oben erwähnte Brüsseler Projekt im Sand. Die Zusammenarbeit mit den Beamten in Brüssel war mühsam und unproduktiv, unternehmerischer Elan fehlte.

Geblieben sind für mich

  • lebhafte Eindrücke aus verschiedenen Ländern und Kulturen, intensive Gesprächen mit Fachleuten in verschiedenen Sprachen und Mentalitäten sowie eine rege Reisetätigkeit, an der ich sowieso Freude hatte, aber zugleich
  • die unerfreuliche Erkenntnis, dass Europa bereits in den 1980-er Jahren den Anschluss an die internationale Entwicklung der Informationstechnologie verpasst hat.

Um gegen diesen absehbaren Rückstand zu arbeiten, bewarb ich mich im Jahr 1984 für den neu geschaffenen Posten eines Wissenschaftsattachés an der österreichischen Botschaft in Washington; ich hätte dort den Transfer von US-Technologie nach Österreich verbessern sollen und die strategische Linie der zuvor beschriebenen Projekte fortsetzen können.

Aber im letzten Moment wurde einem anderen Kandidaten der Vorzug gegeben. Ich war enttäuscht und beschloss, keine weitere Karriere im Bereich der öffentlichen Verwaltung oder der Kammerorganisation anzustreben.

Finanziell konnte ich diese Entscheidung verschmerzen, weil ich als Wissenschaftsjournalist ohnehin genug Aufträge hatte. In der Sache waren es für mich gescheiterte Vorhaben.

Im Jahr 1985 führte dann der Zufall Regie: Damals kehrte ich nach getaner Arbeit immer wieder in einer Cocktailbar ein, die in der Schlossgasse 21 neu eröffnet hatte. Damit begann ein neuer Lebensweg, den ich zuvor für unmöglich gehalten hätte.

Wie es dazu kam, ist im Kapitel „Wirt“ nachzulesen. Es trägt den Titel „Wer nichts wird, wird Wirt“.